von Sharan Thomas Gärtner und Mayonah Bliss
Versöhnung zwischen Frau und Mann
Auf dem Weg zu einer neuen Liebeskultur
Wenn wir in das Herz unserer Kultur hinein spüren, wenn wir tiefer in die Augen der Menschen schauen, die uns begegnen, werden wir wahrnehmen, dass die Welt in einem großen Liebesschmerz ist. Einige fühlen es, die meisten haben diesen Schmerz verdrängt. Doch die Sehnsucht, uns in Liebe, Wahrhaftigkeit und gegenseitiger Wertschätzung zu begegnen, lebt in uns allen fort, bei Frauen wie bei Männern.
Warum gelingt es so wenigen Paaren, eine erfüllte, beglückende Liebesbeziehung zu führen? Wir glauben, dass diese scheinbar persönlichen Themen vor einem größeren kulturgeschichtlichen Hintergrund betrachtet werden müssen. Sowohl in Frauen als auch in Männern hat sich ein kollektiver Schmerzkörper gebildet, bestehend aus der Summe an verletzenden Erfahrungen am eigenen Geschlecht. Dieser wirkt in unser gegenwärtiges Leben hinein und bestimmt unsere Partnerschaften, unser Liebesleben und letztlich den Grad der gelebten Liebe in unserer Kultur.
Mit einer „neuen Liebeskultur“ meinen wir eine Welt jenseits des Patriarchats und jenseits des Geschlechterkampfes. Wir brauchen nicht „mehr Weiblichkeit und weniger Männlichkeit“, sondern geheilte Weiblichkeit und geheilte Männlichkeit und eine Balance männlicher und weiblicher Qualitäten, die sich ergänzen. Dazu gehört, dass Männer wie Frauen die Schatten von Männlichkeit und Weiblichkeit in sich selbst anerkennen und bearbeiten, statt sie sich gegenseitig vorzuwerfen. Lasst uns lieber gemeinsam wütend sein auf das, was uns von unserer offenen Liebesfähigkeit getrennt hat, als aufeinander wütend zu sein!
Mayonah Bliss: Die Sicht einer Frau
Als junge Frau hatte ich Angst vor der Kraft des Mannes, inbesondere vor seiner sexuellen Kraft. Der Phallus war für mich kein Liebeslust-Symbol, sondern ein Symbol männlicher Gewalt. Ich habe in meinem Leben keinen direkten sexuellen Missbrauch erlebt – scheinbar saß diese Angst vor dem Überwältigtwerden durch den Mann kollektiv in meinen Zellen. Durch meine 16-jährige Frauenarbeit, insbesondere im Bereich der Heilung des Schoßes, weiß ich, dass viele Frauen diese Angst teilen, sich dem Mann in aller Offenheit und weiblicher Weichheit hinzugeben. Das Vertrauen zwischen Frau und Mann ist auf einer tiefen Ebene gestört.
Wenn wir davon ausgehen, dass wir im Innersten miteinander verbunden sind, dann ist jede Frau Teil des großen kollektiven weiblichen Körpers. Alles, was Frauen in der Geschichte des Patriarchats erfahren haben und alles, was Frauen jetzt an sexueller Gewalt erleben, ist abrufbar und in unseren Zellen vorhanden. Die tiefste Verletzung im Weiblichen sitzt in ihrem Schoßraum, dem empfänglichen Pol der Frau, wo sie kollektiv gesehen am meisten Gewalt und Demütigung erfahren hat und immer noch erfährt. Solange diese Wunde nicht geheilt ist, wird immer ein Maß an Angst und Misstrauen gegenüber dem Mann in unseren Zellen sitzen.
Heilung des Schoßraumes
Nach meiner Erfahrung besteht ein erster und wichtiger Schritt darin, sich der Heilung der eigenen Wunden im eigengeschlechtlichen Kreis zuzuwenden. Ich selbst bin lange den Weg der persönlichen Heilung der Verletzung meiner Weiblichkeit gegangen und habe im Kreis von Schwestern zu meiner weiblichen Kraft und einem heilen, erwachten Schoßraum zurückgefunden.
Die Identifikation mit dem latenten Opfersein konnte sich über den Ausdruck von Wut transformieren. Wut ist die Kraft, die Frauen aus dem Schmerz des Opferseins holt und den Raum öffnet für eine neue Begegnung, in der die Liebe wieder fließen kann. In dem Maß, wie ich zu meiner weiblichen Kraft gefunden habe, hat sich auch die Angst vor dem Mann in mir aufgelöst. Der Phallus konnte wieder zu einem Symbol der Liebeslust werden.
War ich nun versöhnt mit dem Mann? Auf der persönlichen Ebene: ja. Auf der kulturgeschichtlichen Ebene hatte ich dem Mann noch nicht verziehen. Da war ich noch im Opfer-Täter-Modus identifiziert. Wenn ich Meldungen von Gruppenvergewaltigungen von Frauen las, stieg in mir immer noch die Wut hoch. Die kollektive Frau in mir war wütend auf den kollektiven Mann, der zu solchen Taten fähig war…
Sharan Thomas Gärtner: Die Sicht eines Mannes
Meine eigene Männerarbeit begann mit der Sehnsucht nach männlicher Identität, mit meinem „Vater-Hunger“. Mein aus dem Krieg heimgekehrter, abwesender Vater konnte mir den Weg ins Mann-Sein nicht zeigen und ließ mich bei der Mutter „zurück“. Ich wollte „nicht so werden wie er“, aber die spirituelle Suche in der Welt der 1980er Jahre war begleitet von einer allgemeinen Orientierungslosigkeit was kraftvolles, erfüllendes Mann-Sein bedeutet.
So waren Stationen meiner Reise die Klärung und Aussöhnung mit dem Vater, eine bewusste Wertschätzung für mein Mann-Sein und für die Männer in meinem Leben. Ich lernte, dass dieses Verankertsein im Raum des Mann-Seins die Basis für gelingende Beziehungen ist. Und ich machte mich auf den Weg zu einer guten Balance zwischen dem sensitiven, innerlichen Potenzial und einer wilden, kraftvollen Männlichkeit.
Heilung des Herzraums
Je mehr Männer ich begleiten durfte, umso mehr erlebte ich: Der Herzraum ist ein natürlicher, nährender Raum für uns Männer. Männer lieben und schätzen zutiefst Räume, wo sie sich verbinden, ihre wechselseitige Achtung zum Ausdruck bringen und sich unterstützen können. Wir Männer tragen unsere tiefste kollektive Wunde in unserem Herzraum, dem empfänglichen Pol des Mannes.
Was zumeist als „männlich“ angesehen wird, wie Gewaltbereitschaft, Gefühllosigkeit, Bindungsschwäche, ist kein Merkmal von Männlichkeit, sondern Ausdruck von Verletzungen. Deswegen muss jeder Mann zum einen seine destruktiven Muster konfrontieren: die narzisstische Einsamkeit des Einzelkämpfers, das verschlossene Herz, die entfremdete Sexualität, die Trennung von Lieben und Begehren, der Rückzug von der Frau, wenn Mutterschaft da ist, das Gewaltpotenzial, der Flirt mit Süchten aller Art.
Jeder Mann muss sich zum anderen ebenso seinen eigenen Wunden stellen: dem „Vater-Hunger“, der emotionalen Übergriffigkeit von Frauen, der kollektiven Verletzung durch eine jahrtausendealte patriarchale Kriegskultur und auch der zum Teil feindseligen Abwertung des Männlichen im gesellschaftlichen Diskurs der letzten fünfzig Jahre. Mein Herz öffnete sich für meinen Vater, als ich ihn das erste Mal in meinem Leben weinen sah. Damals hatte ich ihn zu einer Reise nach Lettland gebracht, wo er einen lettischen Piloten nach fünfzig Jahren wiedersah, mit dem er im Krieg zusammen an der Front gewesen war.
Wenn wir heute unser männliches Herz öffnen und uns erlauben, aufrichtig, verletzlich, weich und berührbar zu sein, durchbrechen wir eine jahrhundertealte Kette des Leids. Genau das ist unsere Verantwortung, und wir nehmen sie wahr im Raum der Männer. Wenn wir in das Herz unserer Kultur hinein spüren, wenn wir tiefer in die Augen der Menschen schauen, die uns begegnen, werden wir wahrnehmen, dass die Welt in einem großen Liebesschmerz ist. Einige fühlen es, die meisten haben diesen Schmerz verdrängt. Doch die Sehnsucht, uns in Liebe, Wahrhaftigkeit und gegenseitiger Wertschätzung zu begegnen, lebt in uns allen fort, bei Frauen wie bei Männern.
Verletzlichkeit und Kraft verbünden sich und wir müssen uns nicht länger in Halbherzigkeit verlieren. Wenn das verschlossene männliche Herz und der verschlossene weibliche Schoß sich wieder öffnen, ist der Weg frei zu einer wilden Natürlichkeit, einem lebendigen Frieden. Dann schmeckt auch unsere Verehrung für das Weibliche, für seine Schönheit und für das Mysterium, aus dem heraus Frauen neues Leben gebären können, nach Freiheit.
Auf dem Weg zu einer neuen Liebeskultur
Wie kann nun auf der kollektiven Ebene Versöhnung geschehen? In den Frauen-Männer-Kongressen „Symposium für eine neue Liebeskultur“ und in unseren Seminaren schaffen wir dafür einen großen kollektiven Raum, in dem viele Menschen zusammenfinden, um sich gemeinsam auf die Heilung im Kollektiv auszurichten. Kollektive Themen zeigen sich erst, wenn es diesen entsprechenden Raum dafür gibt, und auch die kollektiven Wunden brauchen ihn für ihre Transformation.
Nachdem wir zuerst in getrennten Frauen-und Männerkreisen eine Vertrauensbasis geschaffen haben, können sich im Versöhnungsritual Frauen wie Männer in den eigenen kollektiven Verletzungen zeigen, den eigenen Schmerz gegenüber dem anderen Geschlecht ausdrücken und ebenso um Vergebung bitten. Mehr braucht es erst einmal nicht. Sich authentisch zu zeigen und Anteil nehmend gesehen werden, darin liegt bereits tiefe Heilungskraft.
In einem Ritual der Wertschätzung, das die Männer für die Frauen und die Frauen für die Männer kreieren, können wir uns schließlich mit der freigewordenen Liebe, tiefem Respekt und gegenseitiger Anerkennung beschenken. Wenn wir in den Raum jenseits von Opfer und Täter finden, kann Vergebung geschehen. Sie kann nicht gemacht werden. Wir können unsere Schritte dahin gehen und die Vergebungskraft einladen – doch die Versöhnung geschieht, wenn die Zeit dafür reif ist.
Und in dem Raum jenseits unserer Identifikation braucht es letztlich keine Versöhnung mehr. Dort ist bereits alles verziehen. Es ist der Raum der Liebe, die immer da ist, in und hinter allem Sein. Mögen wir auf dem Weg zu einer neuen Liebeskultur dorthin zurückfinden!
Veröffentlicht in: newsage 4/2015
Weitere Infos unter www.weiblichkeit-erwacht.de und www.liebe-zum-mannsein.de
Weitere Veröffentlichungen
Liebe ist lernbar – Männer auf dem Weg zu erfüllenden Beziehungen
Vater-Hunger, Vater-Kraft – Kraftvoll Mann-Sein durch Aussöhnung mit dem Vater
Versöhnung zwischen Frau und Mann – Auf dem Weg zu einer neuen Liebeskultur
Improvisation zur männlichen Seele
Krieger des Herzens: 2021 Was braucht die Welt von uns Männern?